Hindernisse
versperren nicht den Weg,
sie sind der Weg.
(Zen-Weisheit)
Es waren einmal ein Schwesterchen und ein Brüderchen, die waren einander sehr zugetan und dies umso mehr, als sie bei ihrer Stiefmutter lebten. Und weil die Stiefmutter sieben eigene Kinder hatte, klagte sie jeden Tag, die beiden würen zu wenig arbeiten und zu viel essen.
Eines Tages kam ein fremder Mann ins Haus, der zwanzig Taler dafür bot, dass er das Brüderchen mitnehmen und an einen reichen Bauern verkaufen könne. Das kam der Stiefmutter gerade recht und so gab sie dem Fremden das Brüderchen mit.
Schwesterchen weinte sehr, aber die Stiefmutter drohte ihr, sie auch zu verkaufen, wenn sie nicht still sein würde.
Da beschloss Schwesterchen, ihr Brüderchen zu suchen. Als es am Abend dunkel wurde, lief sie von zuhause fort.
Schwesterchen lief in den Wald zu einer Hexe, klagte ihr Leid und bat um Rat.
Die Hexe sagte: „Du wirst dein Brüderchen nur wiederbekommen, wenn du es freikaufst. Schließlich hat der reiche Bauer für ihn bezahlt.“
Schwesterchen aber hatte nur das, was sie auf dem Leib trug und ein Stückchen Brot in ihrer Kittelschürze.
Da nahm die Hexe ein Goldstück aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch.
„Ich will dir dieses Goldstück geben, damit du dein Brüderchen freikaufen kannst. Aber ich will dafür dein Haar haben.“
Schwesterchen hatte sehr schönes, langes Haar. Beklommen stimmte sie zu.
„Dann will ich meine Schere holen“, sprach die Hexe und verschwand in der Kammer.
Da griff das Schwesterchen geschwind das Goldstück und rannte hinaus in den dunklen Wald.
Schon bald hörte sie das Zetern und Schreien der Hexe hinter sich.
Schwesterchen lief immer schneller, sprang über Stock und Stein und doch rief die Stimme der Hexe immerzu hinter ihr. „Ich kriege dich, Schwesterchen, und dann nehme ich mir mehr von dir, als nur dein Haar!“
Auf einmal sah Schwesterchen vor sich einen wundersamen Schimmer. Das lieblichste aller Lichter erhellte den finsteren Wald. Sie lief darauf zu und gerade als die Hexe sie fast eingeholt hatte, erreichte sie das sanfte Leuchten und duckte sich, in der Erwartung, gepackt zu werden.
Die Hexe aber rannte an ihr vorbei. „Wo bist du Diebin?“ rief sie, lief hierhin und dorthin und schien das Schwesterchen gar nicht zu sehen, dass da direkt vor ihr staunend im Licht saß.
Als die Hexe ein Stück weitergelaufen war, sah Schwesterchen in der anderen Richtung wieder ein Leuchten. Flugs rannte sie dorthin und duckte sich wieder in das wundersame Licht.
Von dort aus erspähte Schwesterchen wieder ein Stückchen weiter ein neues Licht. Und weil sie immer noch Angst vor der Hexe hatte, rannte sie auch dorthin und hockte sich nieder.
Auf einmal aber wurde Schwesterchen an ihrem Kleidchen gepackt. Sie dachte schon, die Hexe hätte sie gefangen, aber als sie aufblickte, waren da lauter wunderschöne Feen um sie herum.
„Warum verfolgst du uns?“ frage die Fee, die es am Kleidchen hielt.
Schwesterchen zitterte und erzählte schnell, dass sie von einer Hexe verfolgt wurde, der sie ein Goldstück gestohlen hatte, damit sie ihr Haar nicht verkaufen musste um ihr Brüderchen zu befreien.
Dies stimmte die Feen – die einen uralten Zwist mit der Hexe hatten – milde und sie versprachen, dem Schwesterchen zu helfen.
Die Feen brachten sie auf eine wunderschön erleuchtete Lichtung im Wald und gaben ihr zu Essen und zu Trinken.
Dann gaben sie ihr noch einen silbernen Beutel und sagten: „Hierin ist Feenstaub. Wo immer du ihn hinstreust, wird ein Licht leuchten, das dich vor bösen Augen verbirgt.“
Das Schwesterchen dankte den Feen und barg den Beutel unter ihrer Schürze.
„Wir wünschen dir Glück“, sagten die Feen. „Aber schlaf jetzt. Wir werden über dich wachen.“
Als das Schwesterchen am Morgen auf einem Moospolster erwachte, war von den Feen weit und breit nichts zu sehen. Aber gleich neben ihrer Schlafstatt war ein breiter Karrenweg, dem sie rasch folgte.
Bald kam Schwesterchen an einen großen Hof. Sie verbarg sich hinter einem Mäuerchen und da sah sie ihr Brüderchen, wie er schwere Arbeit tat, nur einen zerrissenen Kittel trug und ganz mager geworden war.
Sie ließ ihr Brüderchen nicht mehr aus den Augen bis es Abend geworden war. Und sie sah, wie das Brüderchen mit nichts als einem Kanten Brot in eine armselige Kammer am Kuhstall geschickt wurde.
Als es Nacht geworden war und die Sterne am Himmel schimmerten, schlich sich das Schwesterchen zur Kammer des Brüderchens, öffnete ihren silbernen Beutel und streute eine winzige Prise Feenstaub auf den Fenstersims.
Und als Brüderchen, in der Nacht erwachte, sah er das wundersame Schimmern draußen, direkt vor seinem Fenster. Und da wusste er, dass sein Schwesterchen gekommen war.
Rasch schlich er sich auf den Hof und da stand sein geliebtes Schwesterchen und sie umarmten sich voller Wiedersehensfreude.
Das Schwesterchen zeigte dem Brüderchen ihr Goldstück und sagte: „Ich werde dich freikaufen!“
„Ach“, sagte das Brüderchen, „das wird uns nicht helfen. Mein Herr wird dein Goldstück nehmen und dich auch in seinen Dienst zwingen.“
Aber das Schwesterchen ließ sich nicht entmutigen. „Dann werden wir zusammen weglaufen!“
„Ach“, sagte das Brüderchen, „das wird uns nicht helfen. Mein Herr wird die Hunde hinter uns her hetzen, sobald er merkt, dass ich fortgelaufen bin.“
„Lass das meine Sorge sein“, sagte das Schwesterchen. Sie nahm ihr Brüderchen bei der Hand und sie liefen beide los über die Straße zur Stadt.
Als der Bauer am Morgen merkte, dass sein neuer Knecht entlaufen war, schickte er die Hunde hinter ihm her. Und die Meute rannte bellend und geifernd auf der Spur der beiden Geschwister in Richtung Stadt.
Als Brüderchen das vielstimmige Bellen hörte, bekam er es mit der Angst. „Sie werden uns kriegen!“ rief er.
Aber Schwesterchen blieb stehen, nahm ihr Beutelchen und streute den Feenstaub rings um sie herum.
Und als die Hunde näherkamen, rannten sie einfach an ihnen vorbei und verloren bald die Spur. Ratlos lief die Meute unverrichteter Dinge zurück zu ihrem Herrn.
Brüderchen und Schwesterchen aber liefen weiter bis in die Stadt. Dort kauften sie sich für ihr Goldstück ein Haus, in dem sie fröhlich miteinander lebten.
Und immer wenn der Bauer ein neues Kind kaufte, schlichen sich Brüderchen und Schwesterchen mit dem silbernen Beutel voller Feenstaub auf den Hof und befreiten es. Und noch bevor der silberne Beutel leer war, war es der Bauer leid und machte seine Arbeit selber.