Wenn du gehst, dann geh.
Wenn du stehst, dann steh.
Aber was immer du tust – wackle nicht!
(Zen-Weisheit)
Es waren einmal zwei Brüder, der Hinz und der Kunz, die waren beide Schneider und führten gemeinsam ihr Geschäft. Tag für Tag saßen sie auf ihrem Tisch und nähten hübsche Gewänder. Es hätte auch alles gut sein und immer so weiter gehen können, wenn der Kunz nicht die Angewohnheit gehabt hätte, den lieben langen Tag zu schwätzen. Er redete und redete ohne Unterlass und dabei sprach er nur von den belanglosesten und dümmsten Dingen.
Hinz dachte ein ums andere Mal, dass das Geschwätz von Kunz ihn eines Tages in den Wahnsinn treiben würde und er bat seinen Bruder jeden Tag inständig, doch endlich einmal den Mund zu halten.
Aber dem Kunz war es gleich, er redete eben gar zu gern und so schwatzte er immer weiter dummes Zeug.
Eines Tages hielt es Hinz nicht mehr aus. Er wollte seinem Bruder eine Lehre erteilen und sagte: „Kunz, es ist gar so schönes Wetter, wir wollen einmal die Nadeln ruhen lassen und einen Spaziergang machen.“
Und so gingen sie in den Wald und Hinz führte sie an den Rand einer Schlucht. „Schau nur, Kunz, wie tief es da hinuntergeht!“ sagte er. Und als Kunz sich über den Rand der Schlucht beugte, da versetzte Hinz ihm einen Tritt, so dass er hinunterfiel.
Hinz lief zurück in die Schneiderei und nahm endlich in aller Stille seine Arbeit wieder auf. Es war auch ganz herrlich ohne Kunzens ununterbrochenes Geschwätz. Nur wurde die Arbeit nicht so schnell fertig, wie sie es zu zweit geschafft hätten.
Es hilft nichts, dachte Hinz, ich muss in den Wald und Kunz aus der Schlucht holen. Er soll mir versprechen, mit dem Geschwätz aufzuhören.
Und so lief er in den Wald und rief in die Schlucht hinunter:
„Kunz?“
„Ja!“
„Wenn du mir versprichst, mit dem Geschwätz aufzuhören, dann werfe ich ein Seil zu dir hinunter und ziehe dich wieder herauf.“
„Ja, ich bereue mein Betragen!“
Da warf Hinz das Seil hinunter. Als er es wieder heraufzog, war es viel schwerer, als erwartet. Er zog mit aller Kraft und als er das Ende des Seils fast über den Rand der Schlucht heraufgezogen hatte, da sah er, dass anstatt seinem Bruder ein riesiger Wolf an dem Seil hing.
Beinahe hätte Hinz das Seil vor Schreck losgelassen, aber da sprach der Wolf flehentlich zu ihm: „Um Gottes Willen, befreie mich von diesem Kunz! Ich bin in die Schlucht gestürzt und dort hat er drei Tage von früh bis spät nur geschwätzt und getratscht und geredet, dass ich fast irre geworden bin. Wenn du mir hilfst, will ich dich mit einem Königreich belohnen.“
Da zog Hinz den Wolf ganz aus der Schlucht und der Wolf sagte:
„Höre, ich werde mich zur Tochter des Königs schleichen, ihren Kopf in mein Maul nehmen und nichts wird mich dazu bringen, ihn wieder loszulassen, bis du erscheinst.“
Und so zog der Wolf von dannen. Hinz aber, dem das Flehen des Wolfes noch im Ohr war, ließ seinen Bruder Kunz unten in der Schlucht.
Bald hörte er von der Königstochter, deren Kopf im Schlund eines riesigen Wolfes steckte und er machte sich auf zum Palast. Dort hatten schon alle möglichen Klugen, Starken und Weisen versucht, das arme Mädchen zu befreien aber niemand konnte ihr helfen.
Da ließ der König verkünden, dass derjenige, der seine Tochter befreien könnte, sie zu seiner Gemahlin bekäme.
Flugs wurde der Schneider bei Hofe vorstellig und behauptete, er wüsste, wie er die Fänge des Wolfes lösen könne.
Sogleich wurde er zu der Unglücklichen vorgelassen. Er ging ganz nah an den Wolf heran und flüsterte: „Was man versprochen hat, das muss man halten!“
Augenblicklich ließ der Wolf die Prinzessin los. Und noch während der Hofstaat jubelte, sprach der Wolf zu Hinz: „Eins sage ich dir, wenn ich eine andere fressen will, darfst du dich nicht einmischen, denn sonst fresse ich dich gleich mit!“
Hinz war es zufrieden und der Wolf ging seiner Wege. Und der König richtete eine große Hochzeit aus und Hinz ehelichte die Prinzessin und wurde der Erbe eines ganzen Königreichs.
Und es hätte alles gut sein und immer so weiter gehen können. Aber eines Tages kamen Boten aus dem Land, in dem der Bruder des Königs regierte. Dort war ein Wolf aufgetaucht, der den Kopf der Königin in seinem Maul festhielt und niemand konnte das Tier dazu bringen, loszulassen. Und man hatte gehört, dass Prinz Hinz nur durch Flüstern den Wolf dazu gebracht hatte, loszulassen.
Hinz blieb nichts anderes übrig. Er reiste in das andere Königreich und unterwegs litt er tausend Nöte, was er nur tun sollte um sein Leben und das der Königin zu retten.
Er war so unglücklich, dass er die ganze Geschichte bereute und sich fast wieder mit Kunz in die Schneiderstube zurückwünschte. Bei dem Gedanken fiel ihm eine List ein.
Als er schließlich zur Königin geführt wurde, deren Kopf im Schlund des Wolfes steckte, da sagte er laut:
„Ihr Diener und Lakeien, haltet Euch bereit, denn gleich wird mein Bruder Kunz hereinkommen, er müsste jeden Augenblick da sein.“
Kaum hatte der Wolf den Namen Kunz vernommen, da ließ er die Königin los und rannte über sieben Berge und kehrte nie wieder zurück.